Das Schlimme ist, dass sich kein Politiker zu sagen traut, dass es noch schlimmer wird. In der Krise stößt die Demokratie an ihre Grenzen. Verantwortungsvolle Politik ist nicht mehr mehrheitsfähig und durchsetzbar. Oder doch?

Die Angst vor der Wahrheit

„Ja, es wird schlimmer.“ Das wäre die Wahrheit, aber kaum ein Politiker spricht sie aus. Im Gegenteil, sie versprechen weitere gezielte Maßnahmen, malen das erfreuliche Bild einer baldigen Erholung an die Wand und erklären, dass sie die Krise in den Griff bekommen. Dabei lächeln sie so verbissen tapfer in die Kamera, dass man sofort die Lüge und die Angst spürt, die dahinter steckt. Es sind vor allem die Augen, die sie verraten: Starrheit im Blick, irgendwo Halt suchend, ein Hauch von Irrsinn. Lauter Eindrücke, die wir oft im Detail nicht bewusst wahrnehmen aber uns dennoch Unsicherheit und Unehrlichkeit spüren lassen.

„Ja, es wird schlimmer. Nein, es gibt keine schnellen Lösungen.“ Warum sprechen sie das gerade in Europa nicht aus? Weil sie unter einem großteils selbst auferlegten Macher-Zwang stehen, der es ihnen – vermeintlich – nicht erlaubt, irgendetwas nicht rasch in den Griff zu bekommen. Entstanden aus vollmundigen Wahlversprechen und naiven Übererwartungen, die ihnen Erlöser-Fähigkeiten zuschanzen, denen sie nie und nimmer gerecht werden können. Entstanden aus der arroganten, uneinheitlichen und kurzsichtigen (Un)Kultur der meisten europäischen Regierungen. Vernünftige Fragen werden mit der Optimismus-Keule erschlagen. Besonnene Lösungen durch hastigen Aktionismus ersetzt.

„Ja, es wird schlimmer. Nein, es gibt keine schnellen Lösungen. Aber wenn wir uns anstrengen, neue Strategien entwickeln und die Lasten fair verteilen haben wir in ein paar Jahren eine bessere, lebenswertere Welt.“ Wäre so eine Aussage nicht eine Erlösung aus der (europäischen) Erstarrung? Wäre es nicht der Startschuss dafür, endlich die Ärmel aufzukrempeln und echte Reformen anzugehen? Was hindert uns daran?

Aushöhlung der Mitte bringt Politik-Verdrossenheit

In den letzten 60 Jahren konnten wir ausgeliehenes Geld durch ständiges Wachstum immer wieder zurückzahlen und daraufhin neue Kredite aufnehmen. Aber das System, welches auf der Spekulation auf zukünftige Einnahmen basiert, ist zusammengebrochen. Weil wir halt mehr versprochen haben, als wir realisieren konnten. Weil spekulative Investoren in Risiko-Anlagen investiert haben. Weil wir mit vielen Megaprojekten und Konzernprodukten mehr (Lebensgrundlagen) zerstören als aufbauen. Weil Europa den USA in die Seifenblase künstlicher Finanzprodukte gefolgt ist.

Die Wahrheit ist, dass wir diese Krise nicht nur durch andauerndes sondern auch durch langfristig wirkendes Fehlverhalten verursacht haben und daher auch nicht von heute auf morgen beseitigen können. Die Wahrheit ist, dass diese Krise nicht nur eine der Wirtschaft, sondern auch eine der Politik und der Demokratie ist. Der westlichen Welt fällt derzeit nichts anderes ein, als mit dem Geld der Steuerzahler strauchelnde kapitalistische Großinstitutionen und deren Arbeitsplätze zu retten. Beim dabei gezollten Applaus der betroffenen Manager und Gewerkschafter für die in diesen Fällen ziemlich einträchtig agierenden konservativen und sozial-demokratische Politiker werden die Probleme der im medialen Abseits stehenden KMU und die dort ebenso gefährdeten Arbeitsplätze missachtet. KMU bekommen kaum so direkte Unterstützung und können das Ganze noch dazu mit ihren Steuern finanzieren: Eine krasse Benachteiligung und eine Aushöhlung des Mittelstandes.

Trotz aufkommenden Unmuts setzen die Politiker – verbissen lächelnd und Wahnsinn im Blick – weiter auf kurzfristige, plakative Maßnahmen, versprechen baldigen Aufschwung und verleugnen ihre Hilflosigkeit und Ungerechtigkeit. Zwischen kapitalistischer Finanz- und Konzern-Lobby und sozialer Arbeitnehmer-Lobby werden Mittelstand und KMU deshalb benachteiligt, weil sie derzeit weder Macht noch Mehrheiten zu bieten haben. Auf dem Rücken der gerade jetzt durch ihre Produktivität und Zähigkeit wertvollen mittelständischen Wirtschaft gewinnen die Politiker zwar noch Wahlen, verlieren aber in der Folge an Glaubwürdigkeit und Zustimmung. Weil ihre Kurzfrist-Strategie zu wenig bringt. Weil sie mit der Mittelstands-Überlastung sehr rasch auch den Arbeitslosen und Working Poor das Wasser abgraben. Sie treten auf der Stelle. Das Ergebnis: Steigende Demokratie-Verdrossenheit und der Ruf nach dem starken Mann.

Trotz seiner Verdienste müsste das westliche, kapitalistische System rasch reformiert werden. Dafür müssten wir eine Reihe von Barrieren und Fehlentwicklungen beseitigen: Die beabsichtigten stärkeren Finanzmarkt-kontrollen werden mit Zähnen und Klauen verhindert. Eine teure, zentralistische Energiepolitik kann nicht abgelöst werden, weil an ihr eine mächtige Lobby festhält. Eine substantielle Neuausrichtung der Bildungspolitik wirkt sich erst in Jahrzehnten voll aus. Investitionen in umweltschonende Forschung und Entwicklung und die damit entstehenden Innovationen brauchen sehr lange, bis sie neue Märkte und Arbeitsplätze schaffen. In besagter unseliger (und ungleicher) Allianz von Konzern-Kapitalismus und nationalen Regierungen, die alle kurzfristige Wunder versprechen, wird der oft zitierte Reformstau nicht aufgearbeitet, sondern bis zum Exzess zelebriert.

Die Zeit, von der wir nur glauben, sie nicht zu haben

Hier liegt der Kern der Problematik, die wahre Ursache des noch ungelösten Desasters: Das Macht-Ungleichgewicht zwischen den Regierungen und den Konzernen. Die einen sind in ihren zerstrittenen Staatenbünden nicht in der Lage gemeinsame Beschlüsse zu fassen, die anderen sind schon alleine durch ihre globalen, grenzüberschreitenden Netze weit flexibler und daher überlegen. Dazu kommt das Ungleichgewicht zwischen arm und reich, zwischen Nord und Süd. Immer schon haben Ungleichgewichte die Menschheit an der Entwicklung zu Freiheit, Chancen-Gleichheit und breitem Wohlstand gehindert.

Die Schaffung nationaler Demokratien war da ein erster Schritt.
Die Demokratie wurde ja deshalb geschaffen, um die oft rücksichtslose Dominanz einiger weniger zu durchbrechen. Sie ist die Antwort auf die Erkenntnis, dass die Macht vom Volk bzw. der Mehrheit ausgehen sollte. Sie setzt auf die klassische Gewaltentrennung von Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz. All das befindet sich durch die Ungleichheit im Verhältnis zwischen Konzernen und Regierungen in Auflösung.

Schwache demokratische Regierungen klammern sich mit unhaltbaren Versprechungen an die nationale Macht. Starke Manager der Konzerne und Kapital-Lobbys klammern sich nach dem Motto „nach mir die Sintflut“ an ihre Führungspositionen und ver/behindern strukturelle Wirtschaftsreformen. Noch dazu verschleiern die von diesen abhängigen Medien den Durchblick. Die Menschen verstehen nicht, aber sie fühlen, dass da was nicht stimmt. Daher eben die besagte steigende Demokratie-Verdrossenheit und der Ruf nach dem starken Mann.

Die Ungeduld eskaliert. Aber warum sollen wir uns nicht einmal die Zeit nehmen, von der wir nur glauben, sie nicht zu haben? Warum sollen wir nicht einmal für etwas arbeiten, dessen Erträge wir nicht hier und jetzt beanspruchen können? Warum sollen wir nicht einmal verantwortungsvollen, langfristig agierenden Politikern und Unternehmern vertrauen? Was sind ein paar Jahre, ja ein paar Jahrzehnte, wenn nachher eine stabile, faire Lösung für alle Menschen winkt? Und wir bis dahin Härten für die Schwachen abfedern um soziale Unruhen zu vermeiden? Noch vermeiden Konzerne, Politik und Medien diese Fragen.

Die TCB-Solution

Wir müssen mitten in unsere westlich-unverschämte „Ich will alles und das jetzt“-Zeitraffer-Manier hinein erkennen, dass wir nicht nur in einer globalen Welt, sondern auch in einer relativierten Zeit leben, in der unsere Handlungen sofort und langfristig zugleich wirken. Wo wir an die Grenzen der bisherigen Demokratie stoßen. Wo wir unsere Mitte, unser Herz, unseren Atem zu verlieren drohen.

Um als beständige Lösung der Krise dieses von Mehrheitswählern, Politikern und Managern getragene Ungleichgewicht zu beenden, gibt es wahrscheinlich viele Möglichkeiten. Ich möchte drei Ansätze zur Diskussion stellen, die TCB-Solution:

1. Top Down Balance: Egalisierung der Macht und Spielräume der beharrenden Konzern-Manager durch globalen politischen Willen und klare Richtlinien mit Kontrollen und Sanktionen

2. Core Economy Emancipation: Stärkung der regional und nachhaltig wirkenden KMU durch spezielle Förderung ihrer unsere gesellschaftliche Substanz sichernden Fähigkeiten und Aktivitäten

3. Bottom Up Education: Endlich echte und druckvolle Investition in Aus- und Weiterbildung unter besonderer Berücksichtigung von Migranten und Jugendlichen

Top Down Balance: Einschränkung der Macht und der Spielräume der Konzerne: Wie soll das gehen? Einerseits durch Stärkung der politischen Dachorganisationen: Visionen einer United States of Europe und einer solidarischen, wirklich einigen UNO sollten bald realisiert werden. Andererseits sind die schon vorhandenen Regelansätze auszubauen. Die internationalen Wettbewerbs-Behörden verhindern bereits jetzt übermächtige Monopole. Die Zergliederung unbeweglich gewordener und übermächtiger Konzerne in kleinere Profit Center ist schon lange ein Mittel, um aus volks- oder betriebswirtschaftlichen Gründen effizientere, überschaubarere und sozial agierende Einheiten zu schaffen. Verbindliche Kriterien für CSR, Sustainability und Capability einführen und kontrollieren. Warum nicht eine weltweite Einigung über die Strukturen und Reichweiten von Konzernen erzielen, der ihnen ihre Wohlstand vermehrenden Effekte lässt aber Auswüchse verhindert?

Core Economy (KMU/SME) Emancipation: Wir leben im Kern von den Haltungen, Arbeitsplätzen und Leistungen der mittelständischen Wirtschaft. Erst wenn wir diesem Kern wieder einen gleichwertigen Rang in unserer Gesellschaft zurückgeben, wird es aufwärts gehen. Daher sollten wir besonders deren F&E-Projekte, Innovationen, Kapitalbildung/ Investitionen und Marketing-Aktivitäten fördern und hervorheben. Auch bei den KMU sollte CSR/Nachhaltigkeit gefördert und kontrolliert werden. Umwelt- und Klimaschutz funktioniert am besten dann, wenn die verantwortliche Wirtschaft vor Ort ist. Ganz wichtig dabei ist die Unterstützung für durch KMU getragene regional vernetzte Energie-Autarkie, welche die jeweils optimale Erneuerbare Energie-Lösung installiert statt teure, zentrale, fossile Energie-Giganten zu bevorzugen. Wir alle brauchen eine generelle Stärkung der KMU in ihren lokalen, regionalen und globalen Kooperationen, Clustern und Netzwerken. Neuen nationalen KMU-Lobbys sollte eine Starthilfe gewährt werden wie den Jungunternehmern. Die so notwendige wirtschaftliche Integration von jugendlichen Migranten könnte von KMU am besten bewerkstelligt werden. Mittelständische Kreativität ist zu unterstützen und zu trainieren wie die auch beim Menschen durch Unmäßigkeit oft vernachlässigten Organe Herz und Lunge. Mittelständisches Denken und Agieren im Sinne des „think global – act local“ sollte als solidarische, ethische Qualität verstanden und zum Vorbild entwickelt werden. Geht’s den KMU gut, geht’s den Menschen gut.

Bottom Up Education: Ich bin für ein EU-Gesetz, welches die Regierungen zwingt, ausreichend Geld für Bildungs- und Forschungs-Einrichtungen zu stecken. Mit staatlich verpflichtendem und bezahltem Kindergarten beginnt es, mit erstklassig ausgebildeten Lehrern geht es weiter und mit Top-Class-Fortbildung findet es seine lebenslange Fortsetzung. Die Beobachtung, Nutzung und Förderung konstruktiver Internet-Communities gehört da auch dazu. Impulse für Kunst, Kultur und Subkultur als Quellen neuer Sichtweisen und Entwicklungen. Politische und ethische Bildung/Information für Junge und Alte schützen vor den Irrwegen extremistischer Rechts- und Links-Bewegungen und ihren populistischen, Demokratie-feindlichen Anführern. Auch wenn jetzt viele Arbeitsplätze „gerettet“ werden, ohne Reform an Haupt und Gliedern werden diese wieder verloren gehen.

Wovor den Machthabern graut

Es ist immens dumm und gefährlich, ja verbrecherisch den Menschen nicht reinen Wein einzuschenken. Weil dann dieses Gefühl entsteht, dass sich das „schon wieder einrenken wird“, ohne dass wir uns anstrengen müssen. Verleitet vom immer wieder „erlebten“ Hollywood-Happy End aller Weltuntergangs- und Katastrophenfilme glauben zu viele zu gerne an die wundersame Errettung durch einen Helden oder eine plötzliche Eingebung. Was die verhängnisvolle Wechselwirkung von „Du Politiker schaffst das schon“ und „Ich Politiker darf nicht zugeben, dass ich keinen schnellen Ausweg sehe“ verschärft. Da entsteht auch kein Aufbäumen in der Bevölkerung und bei den Berufstätigen. Da entsteht nur ein lasches, müdes, ambitionsloses Abwarten, dass andere das lösen. USA und China stemmen sich jetzt schon recht energisch und substantiell gegen die Krise, während Europa halbherzig Kosmetik betreibt. In der Europa nach dem 2. Weltkrieg war es klar, dass wir in der Scheiße sitzen und neue Grundlagen für den Wiederaufbau schaffen müssen.

„Ja, es wird schlimmer. Nein, es gibt keine schnellen Lösungen. Aber wenn wir uns anstrengen, neue Strategien entwickeln und die Lasten fair verteilen haben wir in ein paar Jahren eine bessere, lebenswertere Welt.“ Das wäre eine ehrliche und ermutigende Aussage. Wenn sich verantwortungsvolle Politiker ein Herz fassen und dabei Top Down Balance, Bottom up Education und die Core Economy Emancipation forcieren, können wir diese Krise in den Beginn einer wundervollen Entwicklung umwandeln. Neue, vor allem mittelständische wirtschaftliche und politische Denkschulen, Gruppierungen und Lobbys müssen sich dafür formieren. Den bestehenden Machthabern graut davor – uns graut vor den bestehenden Machthabern. Letztlich werden diese neuen Lobbys die Krise meistern, weil sie aus der Mitte der Gesellschaft heraus agieren. Weil sie das Wichtige vor dem Dringenden tun. Endlich.